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Inhaltsangabe Rosch Haschanah 5765 Herbst 2004 - Tischri 5765

Editorial - September 2004
    • Editorial [pdf]

Rosch Haschanah 5765
    • Selbstdisziplin – Respekt – Hoffnung [pdf]

Politik
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Interview
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Medizin und Halachah
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Küchenrezept zu Rosch Haschanah
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Ethik und Judentum
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Das gute Gedächtnis
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Selbstdisziplin – Respekt – Hoffnung

Rabbiner Zwi Tal. Foto: Bethsabée Süssmann

Von Roland S. Süssmann
Jahr für Jahr nehmen wir an denselben Ritualen und Feierlichkeiten teil. Wir sagen dieselben Gebete und denken über dieselben Themen nach. Wie sah das vergangene Jahr aus? Wie haben wir uns gegenüber unserem Umfeld verhalten, wie stand es um unsere gelebte Frömmigkeit, wie um unsere Beziehung zu Israel? Was haben wir bewirkt? Wie kündigt sich das neue Jahr an? Was erhoffen wir uns? Welche Pläne, Erwartungen haben wir? Werden wir unsere guten Vorsätze verwirklichen können? Alle diese Fragen und Sorgen lassen sich eigentlich auf ein wesentliches Element reduzieren: wie wird man über uns Gericht halten? Gemäss unserer Tradition fällt nämlich G’tt an Rosch Haschanah sein Urteil über uns und stützt sich dabei auf unsere Taten des vergangenen Jahres; dies ist entscheidend für das neue Jahr, das sich vor uns auftut.
Wir wollten erfahren, in welchem Sinne das Judentum die göttliche Gerechtigkeit im Vergleich zur menschlichen Gerechtigkeit wahrnimmt und haben daher ein Gespräch mit Rabbi ZWI TAL geführt, einem ehemaligen Richter am Obersten Gerichtshof von Israel und einem der berühmten Talmudgelehrten unserer Zeit.

Für diejenigen, die sich davon angesprochen fühlen, ist diese Epoche im jüdischen Kalender so besonders, weil es sich um eine Zeit der Infragestellung und der kritischen Rückschau handelt. Auch dieses Jahr bildet da keine Ausnahme und es stellt sich nun die Frage, mit welcher Einstellung wir die feierlichen Ereignisse zu Beginn des Jahres 5765 angehen sollen.

Rosch Haschanah, auch Jom Hadin genannt, Tag des Gerichts, wird in der Torah als Jom Hazikaron beschrieben, Tag der Erinnerung. Wir bitten den Herrn, sich an uns zu erinnern. In einem der ernsteren Gebete von Rosch Haschanah, dem Netane Tokeph, sagen wir ja insbesondere: «… G’tt ist Ankläger, Zeuge, Partei und Richter. Er schreibt auf (unsere Taten), er zählt (unsere Fehler und Tugenden), er wägt ab (das Gute und das Böse) und unterzeichnet (unser Urteil). Es wird nichts vergessen.». Dieser Gedanke der Erinnerung führt wie ein roter Faden durch alle unsere Gebete. Die Worte «erinnere dich» kommen immer wieder vor und man kann sich fragen, ob G’tt es wirklich nötig hat, dass wir uns ihm in Erinnerung rufen. Was erwarten wir vom Herrn, wenn wir ihn bitten, an uns zu denken? In Wirklichkeit nehmen wir G’tt in Bezug auf uns selbst, auf unsere Fähigkeiten, unsere Gefühle und unsere Grenzen wahr. Unser Gedächtnis ist verhältnismässig passiv. Wenn wir uns nämlich an ein Ereignis, vor allem an einen schmerzlichen Vorfall erinnern, kommen uns die objektiven Elemente recht leicht wieder in den Sinn, während wir uns richtig anstrengen müssen, um uns an die Gefühle und Empfindungen zu erinnern, die wir damals verspürt haben. Wenn wir im Gebet den Herrn bitten «sich zu erinnern», soll er sich an die Wärme und die Intensität unserer Gefühle zu dem Zeitpunkt erinnern, an dem wir Ihm nahe waren, und nicht an den gegenwärtigen Moment denken, wo wir uns von Ihm entfernt haben. Auch in diesem Geist der Liebe hat der Herr einen Bund mit uns geschlossen. Wie bei einem Paar erfolgen die Abmachungen und Vereinbarungen zu Beginn der Beziehung, wenn die Liebe noch stark ist und sich jeder dem anderen nahe fühlt. Diese Abmachungen und Vereinbarungen sind ja nicht für die Phasen der Euphorie gedacht, sondern sollen die Probleme dann regeln, wenn die Gefühle erkaltet sind und die Partner sich einander entfremden. Dann hofft man, dass die Erinnerung an den Bund und an die Atmosphäre, die bei seinem Abschluss herrschte, die Wärme und Verbundenheit des Anfangs wieder auferstehen lassen, und dass die grenzenlose Liebe wieder erwacht. Neben der Bitte an G’tt sich an uns zu erinnern ist in den Gebeten von Rosch Haschanah oft auch diese Forderung zu hören: Socher Haberit, erinnere Dich an den Bund. Es gibt heute zahlreiche Bereiche, in denen wir uns von G’tt entfernt haben, diese reichen von der Ausübung der Religion bis zur Identifizierung mit Israel. Diese Tatsache ist leider darauf zurückzuführen, dass viele von uns keine echte jüdische Erziehung genossen haben und folglich heute weder unsere Gesetze, noch unsere Traditionen oder den Dienst an G’tt kennen. Und dennoch bitten wir ihn, sich an uns zu erinnern, wie damals, als wir uns noch sehr nahe standen, damit er uns nicht aufgrund der gegenwärtigen Situation beurteilt, sondern im Geist der Liebe und der Nähe, wie zu der Zeit, als wir unseren Bund mit Ihm schlossen. Doch diese Forderung können wir nicht an den Herrn stellen, indem wir mit leeren Händen vor Ihm stehen. Jeder einzelne von uns muss sich bemühen, sich mit allen Kräften bemühen. Die Liebe des Herrn erfolgt über die Nächstenliebe. Es ist natürlich einfach, Freundschaft für die Menschen zu empfinden, die uns sympathisch sind, mit denen wir einer Meinung sind und angenehme Stunden verbringen. Doch die Anstrengung, die uns abverlangt wird, besteht eben darin, auch denen Freundlichkeit und Wärme entgegenzubringen, mit denen wir nichts gemeinsam haben, die wir nicht besonders schätzen und deren Gesellschaft wir gar meiden. Ihnen müssen wir uns zuwenden, um die Liebe innerhalb des jüdischen Volkes und Israels zu stärken und zu vergrössern. Es handelt sich um harte, schwere Arbeit, die jeder von uns aus eigener Kraft bewältigen muss; die Erfahrung hat gezeigt, dass sie sich auszahlt, wie es in den Sprüchen heisst (27,19): «Wie sich im Wasser das Angesicht spiegelt, so ein Mensch im Herzen des andern». Natürlich machen wir sowohl in Bezug auf die Sicherheit als auch in der Politik schwere Zeiten durch. Doch ich bin überzeugt, dass wir, wenn wir uns untereinander besser verstehen, zwangsläufig eine grössere Einigkeit erzielen und der Druck von aussen dadurch automatisch geringer wird. Unsere Feinde greifen uns viel heftiger an, wenn sie merken, dass wir zerstritten sind.

Sie sprechen von «Einigkeit, Freundschaft, sogar von Einheit» innerhalb der israelischen Gesellschaft und des jüdischen Volkes. Es ist allerdings eine Tatsache, dass wir von einem Ansatz zur Einigkeit sehr weit entfernt sind. Wie kann sich diese Situation ändern?

Dies ist die grosse Herausforderung dieses anbrechenden Jahres. Die Schwierigkeiten sind zwar enorm, aber nicht unüberwindbar. Es ist alles eine Frage der Selbstdisziplin, wenn nicht sogar der Erziehung: wir müssen unsere Einstellung radikal ändern. Der Dialog, wenn er denn stattfindet, beschränkt sich heute oft auf zwei Monologe, wobei sich jeder der Gesprächspartner fragt, wie er dem anderen antworten und ihn überzeugen soll. Wir müssen jetzt aber lernen, unserem Gegenüber zuzuhören und ihn zu verstehen, auch wenn wir eigentlich nicht seiner Meinung sind. Daraus besteht die Basis für die nationale Einigkeit und das Verständnis der Menschen untereinander. Die Veränderung, die ich meine, muss in erster Linie von den Führungspersönlichkeiten in Religion und Politik verwirklicht werden, denn sie müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Man darf aber nicht vergessen, dass dieses Problem nicht neu ist, denn selbst wenn die Beteiligten und die Situation sich geändert haben, bleibt doch der Mensch grundsätzlich der gleiche, was aber nicht bedeutet, dass eine positive Entwicklung unmöglich ist. Zu jedem Jahresbeginn eröffnet nämlich der Herr eine erneute, ein Jahr währende Phase der Gnade, und es hängt alles davon ab, was wir daraus machen, kurz, in welcher Weise wir die positiven Kräfte in uns nutzen. Natürlich bleiben auch dieses Jahr wieder alte Probleme bestehen, doch uns wird eine neue Chance geboten auf dem richtigen Weg weiterzukommen. Zu diesem Jahresanfang liegt das Wesentliche eben in der Verbesserung unserer innenpolitischen Beziehungen.

Da sie als Richter wirkten, standen immer wieder Menschen vor Ihnen, die auf Ihr Urteil warteten. Sie wussten sehr wohl, dass diese Angeklagten voller Furcht vor Ihnen erschienen. Wenn wir uns aber ab dem Beginn des Monats Elul vor den Herrn begeben und uns darauf vorbereiten, während den so genannten «ehrfurchtbaren Tagen» von Rosch Haschanah und Kippur verurteilt zu werden, empfindet fast niemand ein Gefühl der Angst. Oft geht man aus Tradition, ja sogar aus Aberglaube in die Synagoge, um wirklich sicher zu gehen, dass das kommende Jahr positiv ausfallen wird. Wie erklären Sie sich diesen Unterschied?

Sie sprechen da eine grundlegende Frage an, die mich persönlich sowie zahlreiche Rabbiner und jüdische Denker seit langem beschäftigt. Dazu möchte ich einen Talmudmeister zitieren, Rabban Yochanan Ben Zakaï, der auf die Frage nach dem eigentlichen Wesen seines religiösen Erbes, die ihm seine Schüler auf dem Totenbett stellten, Folgendes antwortete: «Ich wünsche mir, dass ihr G’tt so sehr fürchtet wie den Menschen». Erstaunt fragten seine Schüler: «Muss denn die Furcht vor dem Herrn nicht grösser sein?». Doch der Lehrer erwiderte: «Wenn es doch nur so wäre». Es trifft tatsächlich zu, dass ein Mensch, der Unrecht tut, sehr viel mehr Angst davor hat, dass ihn jemand sieht, als vom Herrn beobachtet zu werden. Es gibt eigentlich zwei Formen der Furcht: diejenige vor der Strafe und diejenige vor der Autorität, wobei die Furcht vor der Strafe auf der niedrigsten Stufe steht, da sich das Individuum nur um sein eigenes Wohlergehen sorgt. Zwischen diesen beiden Extremen liegen Tausende von Variationen der Angst, und oft begehen wir etwas Unrechtes ohne zu zögern, weil wir gar nicht davon ausgehen, dass dieser oder jener Verstoss gegen die Vorschriften der Torah wirklich schlimm sein könnte. Die Furcht vor dem Herrn ist nicht angeboren, man eignet sie sich an. Dies wird in den Sprüchen deutlich gesagt (2, 3-5): «Ja, wenn du nach Vernunft rufts und deine Stimme nach Einsicht erhebst, wenn du sie suchst wie Silber und nach ihr forschest wie nach Schätzen: dann wirst du die Furcht des Herrn verstehen und die Erkenntnis G’ttes finden». Die Furcht vor G’tt ist eine Frage der Selbstdisziplin und der Arbeit an sich selbst.

Alles, was wir nun erwähnt haben, betrifft diejenigen Menschen, die sich ihres Judentums bewusst und für die Ernsthaftigkeit der hohen Feiertage empfänglich sind. Gemäss unserer Überlieferung wird das Urteil an diesem Tag aber auch über unsere Glaubensbrüder gesprochen, die nicht fromm sind. Wie kann dies angehen, wenn sie keine Ahnung haben, was ihnen da widerfährt?

Es ist klar, dass eine Person, die das Judentum nicht kennt, für ihre Überschreitungen nicht in der Weise verantwortlich gemacht werden kann wie jemand, der darüber Bescheid weiss. Gemäss unserer Tradition ist G’tt sehr viel strenger mit jenen, die das Wissen besitzen. Meines Erachtens gibt es aber nur einen Vorwurf, den man einem Juden machen kann, dem nicht das Privileg zuteil wurde das Judentum zu studieren: man fragt ihn, weshalb er sich nicht für seine Wurzeln und Traditionen interessiert, obwohl er um sein Judentum und dessen Reichtum weiss. Er kann nicht für seine Überschreitungen verantwortlich gemacht werden, doch es ist ebenfalls inakzeptabel, sich nicht für die Werte seines eigenen Volkes zu interessieren. Darüber hinaus gibt es einen Grundsatz, der besagt, dass «jeder das Gesetz zu kennen hat».

Wie vergleichen Sie als Richter die beiden juristischen Systeme: das Verfahren, das vor die Gerichte der Menschen führt, und dasjenige, das zu Beginn eines jeden Jahres bewirkt, dass der Herr sein Urteil über uns fällt?

Das göttliche System ist aussergewöhnlich und verkörpert eine phantastische Botschaft der Hoffnung. Das juristische Verfahren beginnt nämlich mit dem Monat Elul, d.h. mit einem Monat der Gnade, in dessen Verlauf man seine Taten nicht nur ernsthaft bereuen, sondern sie sogar annullieren oder aufheben kann. Kein von Menschen konzipiertes juristisches System bietet eine derartige «zweite Chance» vor dem Prozess. In den anderen Rechtsprechungen läuft die Zeit nur in einer Richtung, so dass jedes Vergehen automatisch geahndet wird. Darin liegen das absolut Einzigartige und die göttliche Dimension des Konzepts der Teschuwah, des Insichgehens mit darauf folgender echter Reue. Wenn es uns gelingt, diese uns gebotene neue Chance zu nutzen, können wir am Tag des Gerichts in einer besseren geistigen Verfassung und voller Hoffnung vor G’tt treten. Dies gilt natürlich nur für die Überschreitungen, die wir uns gegenüber dem Herrn zuschulden kommen lassen. Die Fehler, die wir gegenüber unseren Mitmenschen begehen, können nur wieder gut gemacht werden, wenn wir die betroffene Person entschädigen und uns von ihr verziehen wird. Nur unter dieser Bedingung kann uns der Herr das Unrecht vergeben, das wir unseren Mitmenschen getan haben.
Abschliessend möchte ich sagen, dass das Urteil, dem wir zu Beginn jedes Jahres ausgesetzt sind, sowie das System der vorhergehenden Teschuwah eine unwahrscheinliche Botschaft der Hoffnung darstellen. Diese liegt aber im Herzen eines jeden von uns. Es liegt allein an uns, diese Hoffnung in Glück zu verwandeln. Zwei grundlegende Elemente können uns helfen, diesen Wunsch zu verwirklichen: die Selbstdisziplin und der Respekt unserer Mitmenschen!


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