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Inhaltsangabe Porträt Herbst 1999 - Tischri 5760

Editorial - Herbst 1999
    • Editorial

Rosch Haschanah 5760
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Politik
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Porträt
    • Von Berlin Nach Hebron

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Ethik und Judentum
    • Ein Kind - Zu Welchem Preis ?

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Von Berlin Nach Hebron

Von Roland S. Süssmann
PORTRÄT
In einem seiner berühmtesten Werke, «Die Welt von gestern», versetzt Stefan Zweig den Leser in das Österreich der Jahrhundertwende, als dort ein höchst gebildetes und stark assimiliertes jüdisches Bürgertum verkehrte. NAOMI FRENKEL, ein echtes Kind dieser versunkenen Kultur und dieser Epoche, gehört zu den beliebtesten Schriftstellerinnen der hebräischen und israelischen Literatur unserer Zeit. Wenn man ihr zuhört, erhält man den Eindruck, sie entspringe direkt dem Buch von Zweig, obwohl sie nicht aus Wien, sondern aus Berlin stammt. Diese zierliche Dame, der man ihr Alter keinesfalls ansieht, mit ihrem Hütchen, das lächerlich wirken könnte, es auf ihrem Haupt aber nicht tut, mit dem reizenden, hinreissenden Lächeln eines jungen Mädchens, spricht mit einer Hingabe und jugendlichen Begeisterung, mit der höchstens ihre Wortgewandtheit Schritt halten kann. Ihr Deutsch ist grammatikalisch korrekt, doch mit typisch berlinerischen Ausdrücken gewürzt, die sie jedesmal hervorhebt durch ein «wie man damals sagte».
Um den Gedanken und Ansichten von Naomi Frenkel folgen und ihren sowohl erstaunlichen als auch aussergewöhnlichen Werdegang verstehen zu können, muss zunächst der Lebensweg dieser grossen Dame der jüdischen Literatur erzählt werden. Es muss ebenfalls betont werden, dass Naomi zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Existenz im Berufsmilitär tätig war und dass sie bei der Erfüllung der ihr übertragenen Aufgabe nicht davor zurückscheute, mit dem Fallschirm abzuspringen und mit Marinekommandos zu verkehren, doch das ist wieder eine ganz andere Geschichte.
Als Jüngste einer Familie von sieben Kindern (drei Knaben und vier Mädchen) wuchs Naomi in der jüdischen Bourgeoisie von Berlin auf, die durch ihren Lebensstil die oberste jüdische Gesellschaftsschicht im Deutschland der 20er Jahre sehr gut widerspiegelte. Ihr Vater, Arthur Frenkel, war der direkte Nachkomme einer grossen Industriellenfamilie, die das Leinengewerbe in Deutschland gegründet hatte. Er war ein sehr belesener, sprachgewandter und akademisch gebildeter Mann, der beschlossen hatte, sich beruflich mit der Leitung einer Munition herstellenden Metallfabrik zu befassen. Es lag ihm ganz besonders am Herzen, und das war für seine Zeit revolutionär, dass alle seine Kinder, auch die Mädchen, eine solide Ausbildung erhielten. Auf diese Weise kam die kleine Naomi in ein privates Institut für hochbegabte Kinder, das man damals «Universitätsschule» nannte und das vom Kindergarten bis zur Matur reichte. Die Auswahl war derart streng, dass die zukünftigen Schüler eine Eintrittsprüfung abzulegen hatten... um in die erste Klasse aufgenommen zu werden. Die Schule namens «Erste Städtische Studienanstalt» war direkt an die Berliner Universität angeschlossen. Naomi Frenkel zählte zu den wenigen jüdischen Kinder, die zugelassen wurden, und war die einzige Jüdin ihrer Klasse. Naomis Mutter starb, als das kleine Mädchen zwei Jahre alt war, und die Familie lebte in einer Villa ausserhalb von Berlin. Der Vater setzte alles daran, um seinen Töchtern eine typisch deutsche und jüdische Erziehung angedeihen zu lassen, in erster Linie deutsch... dann erst jüdisch. Die Familie Frenkel war ein typisches Beispiel für diese Juden, die sich als «Deutsche mosaischen Glaubens» bezeichneten. Es ist eine interessante Tatsache, dass die Fabrik Arthur Frenkels an Jom Kippur für einen halben Tag geschlossen war und er persönlich den ganzen Tag lang fastete. Die Familie begab sich mit dem Wagen in die liberale Synagoge der Oranienburgstrasse. Trotz der fortgeschrittenen Anpassung lehnte es Arthur Frenkel immer ab, dass an seinem Tisch Schweinefleisch serviert wurde. Alles Deutsche stand für ihn jedoch an oberster Stelle, vor seiner Beziehung zum Judentum. Als deutscher Offizier wurde er während des Ersten Weltkriegs durch Gas schwer verletzt. Da Naomi nach dem Krieg geboren wurde, stand ihre gesamte Kindheit unter dem Zeichen zweier Hauptthemen: dem frühzeitigen Tod ihrer Mutter und der Krankheit ihres Vaters. Letzterer musste zahlreiche medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen und reiste regelmässig nach Davos, um sich betreuen zu lassen. Es war sich seines Zustandes bewusst und verbrachte viel Zeit damit, seine Nachfolge vorzubereiten, damit das Leben seiner Kinder, sein Haushalt und die Fabrik auch nach seinem Hinschied reibungslos weiterlaufen würden. Naomi wurde wie ihre Schwestern äusserst streng erzogen. Jedesmal, wenn sie ihren Vater sehen wollte, musste sie sich anmelden lassen, sozusagen einen Termin vereinbaren. Die Villa war in zwei Ebenen aufgeteilt, die Eltern lebten im ersten Stock, die Kinder im zweiten. Nie wäre es einem Kind in den Sinn gekommen, das Schlafzimmer der Eltern aufzusuchen, und Naomi sah das Zimmer ihres Vaters zum ersten Mal nach seinem Tod. Parallel zu dieser sehr strikten und strengen Erziehung genossen die Kinder von Arthur Frenkel den «schlechten Einfluss» eines Grossvaters, dem der Schalk im Nacken sass, der sehr wohlhabend war und daher jeden Augenblick und alle angenehmen Seiten des Lebens genoss. Er war verwitwet, lebte in der Villa der Frenkels und unternahm mit den Kindern alles, was ihr Vater ihnen verbot. Diese liebten ihn heiss, denn sie hatten zu ihm eine viel innigere Beziehung als zu ihrem Vater. Als Arthur Frenkel 1932 starb, veränderte sich sozusagen nichts im sehr geordneten Leben der kleinen Naomi, die damals knapp zehn Jahre alt war. Ihre nicht sehr seriösen Schwestern liessen sich nur zu gern vom Strudel der Vergnügungen im Berlin der schönen Jahre mitreissen. Naomi hingegen besass diese Privilegien nicht, denn sie unterstand neben den hohen Anforderungen der Schule einem Privatlehrer, der ihre Ausbildung vervollkommnen sollte. Während des Ersten Weltkriegs hatte Arthur Frenkel einen jüdischen Anwalt und Zionisten kennengelernt, Dr. Philip Kotsowa, den er gebeten hatte, nach seinem Tod der Vormund seiner Kinder zu werden. Kostsova war der Anwalt der israelitischen Gemeinschaft und während des Zweiten Weltkriegs der offizielle Vertreter der Gemeinschaft gegenüber der Gestapo. Er und seine ganze Familie wurden deportiert und von den Nazis ermordet. Er nahm die Vormundschaft für die Frenkelschen Kinder sehr ernst und hatte bald alles in die Wege geleitet, damit die kleine Naomi nach Eretz Israel ausreisen konnte.
Naomi Frenkel, die sehr behütet aufgewachsen war, machte schon in jungen Jahren ihre erste antisemitische Erfahrung. Kurz nach dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland wurde einem grossen Mädchen an der Schule, die auch Naomi besuchte, nach einer Gymnastikstunde ein Kleid gestohlen. Nur die jüdischen Kinder wurden sofort verdächtigt und befragt. Die kleine Naomi war durch dieses Vorgehen zutiefst verärgert und erklärte, sobald sie wieder zu Hause war, sie wolle nicht mehr in diese Schule zurück. Ihre Schwester Charlotte, «Lottchen» genannt und sechzehn Jahre älter als sie (sie lebt immer noch in Israel), die in gewisser Weise die Mutterrolle übernommen hatte, rief Dr. Kotsowa an und erklärte ihm die Situation. Er sagte ihr, ein Kinderkonvoi würde demnächst nach Palästina losfahren. Er war von der jüdischen Gemeinschaft organisiert worden und den Kindern vorbehalten, deren Eltern in Gefahr schwebten, wie beispielweise die jüdischen Reichstagsabgeordneten, die bekannten Kommunisten usw. Die englische Regierung hatte für diese Kinder dreissig Einreisegenehmigungen nach Palästina ausgestellt. An dieser Stelle soll von einem Erlebnis berichtet werden, das bei Naomi Frenkel die tiefgreifende Suche nach ihrer jüdischen Identität auslöste, auf die sie erst viele Jahre später, in Hebron ...., eine Antwort fand.
Kehren wir also nach Berlin zurück, wo die kleine Naomi, noch zu Lebzeiten ihres Vaters, täglich das immer stärkere Aufkommen des Nationalsozialismus und die immer vorherrschendere Präsenz der Hitler-Anhänger miterlebte. Diese marschierten durch die Strassen Berlins und sangen dabei «Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann ist es noch einmal so gut.» Als Naomi ihren bereits schwerkranken Vater fragte, was es denn bedeute, Jude zu sein, und warum alle diese Menschen sie nur deshalb töten wollten, weil sie Jüdin war, antwortete er ihr, sie solle nicht auf diese Leute hören, es handle sich um Ganoven, um eine vorübergehende Erscheinung, die rasch wieder verschwinden würde. Er sagte ihr, sie dürfe nie vergessen, dass sie einer deutschen Familie jüdischen Glaubens angehöre, und dass sie zwar zu Hause Jüdin, ausserhalb jedoch eine Deutsche sei ! Trotz ihrer Jugend war die kleine Naomi zutiefst verletzt durch das, was ihr zu Ohren kam, und vor allem sehr verwirrt durch diese brennende Frage, die sie ein Leben lang verfolgen sollte: Was ist ein Jude ? Sie begann, alles zu lesen, was sie zu diesem Thema finden konnte und stellte jedem Menschen, den sie kennenlernte, dieselbe Frage. Ihr Grossvater machte sich über sie lustig, indem er behauptete, sie werde bestimmt eines Tages Rabbiner.
Und mitten in dieser Suche nach ihrer Identität erhält Naomi Frenkel die Gelegenheit, nach Palästina zu reisen, in dieses Land, über das sie so viel gelesen hatte und das ihrer Familie so fremd war, dass ihr Grossvater, als sie es zum ersten Mal erwähnte, sogar gefragt hatte, «wo es denn liege, vielleicht im Süden Australiens ?» Hitler war im Januar 1933 gewählt worden, und Naomi schiffte sich im März desselben Jahres nach Palästina ein. Natürlich war dies keine leichte Entscheidung für Naomis Geschwister. Vor seinem Tod hatte jedoch Arthur Frenkel seinen Kindern aufgetragen, Dr. Kotsowa ihr volles Vertrauen zu schenken. Trotz aller Kritik befolgten sie also die Ratschläge ihres Vormunds. Letzterer bemühte sich nach Kräften darum, die Kinder Frenkel zu retten, und dank seiner Unterstützung konnten nacheinander alle unbehelligt Deutschland verlassen.
Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Vorbereitungszentrum in Berlin selbst, in dem die ausreisenden Kinder einige Brocken Hebräisch und notdürftige Grundkenntnisse über Eretz Israel lernten, kam der ersehnte Tag heran. «Ich werde meine Abreise aus Deutschland nie vergessen, denn am Bahnhof, wo alle Familien sich ein letztes Mal von ihren Kindern verabschieden wollten, hatten die Nazis eine kompakte Mauer gebildet und machten dadurch jeden Kontakt zwischen Eltern und Kindern unmöglich. Trotz aller Liebe zu meiner Familie war ich begeistert, Deutschland zu verlassen und nach Palästina zu fahren … ich kannte damals noch nicht das Heimweh und die Sehnsucht.» Die Ankunft in Palästina und die Anpassung an das neue Leben fielen ihr entsetzlich schwer. Da war zunächst die fremde Umgebung, die Trennung von der Familie, jedoch auch die Umstellung der Essensgewohnheiten. So wurden die kleine Naomi und ihre Kameraden während eines ganzen Jahres vom Hunger geplagt, weil sie die einheimischen Lebensmittel nicht herunterbekamen. Und die Sehnsucht nach der Familie war bald so gross, dass diese kleinen Mädchen nach Einbruch der Nacht über die Mauer des Heimes kletterten, in dem sie untergebracht waren, um nach Jerusalem zu gehen und durch die beleuchteten Fenster der Häuser glückliche Familien zu beobachten und dabei bittere Tränen zu vergiessen. Doch die Kinder lernten sehr schnell Hebräisch, lebten sich in der israelischen Gesellschaft ein und schlossen sich verschiedenen Jugendbewegungen an. Naomi Frenkel wurde Mitglied des “Haschomer Hatzair”, einer linksradikalen nichtreligiösen Bewegung.
1936, im Jahr der Olympischen Spiele, erlebte Deutschland eine Zeit der vorübergehenden Liberalisierung. Zu seinen Lebzeiten hatte Arthur Frenkel eine grössere Geldsumme zugunsten von Naomi beiseitegelegt, damit sie ab ihrem 18. Geburtstag ihr Universitätsstudium damit finanzieren konnte und über eine Mitgift verfügte. Dr. Kotsowa hatte diese Summe einem Gericht für minderjährige Waisen anvertraut, das die Vollmacht über dieses Kapital besass. 1936 wollte er das Geld zurückhaben und es nach Grossbritannien überweisen, doch das Gericht verlangte zunächst die Waise zu sehen. Naomi kehrte folglich nach Deutschland zurück und kam gerade noch rechtzeitig, um die Auflösung ihres Elternhauses mitzuerleben. Die Nazis hatten alles gestohlen… Ihre Geschwister hatten, bis auf eine Schwester, Deutschland verlassen, drei von ihnen hatten sich in Argentinien, andere in Palästina niedergelassen. Naomi sprach in Begleitung von Charlotte und Dr. Kotsowa beim Gericht vor. Dieser Vorfall enthüllt sehr deutlich, wie die Nazis ihre Beziehungen zu den Juden sahen. In den Gängen des Gerichts waren die Bänke mit folgenden Inschriften versehen: «Das Sitzen ist für Juden verboten», und ein Aufseher musste dafür sorgen, dass kein Jude gegen dieses wichtige Gebot verstiess. Gleichzeitig standen Naomi und ihre Begleiter nach zwei Stunden Wartezeit vor einem echten Gerichtshof, das gemäss der geltenden Rechtsprechung funktionierte. So beschloss das Gericht nach seiner Verhandlung, dass man Naomi das Geld nicht überlassen könne, da die Gefahr bestehe, dass sie eines Tages einen Juden heirate. Wenn sie aber ein gesundheitliches Problem haben sollte, würden die Arztkosten durch ihr Kapital gedeckt werden. Naomis Schwester vereinbarte in der Folge einen Termin mit dem persönlichen Arzt Hitlers, der in Berlin eine sehr vornehme Klinik führte. Sie erklärte ihm die Situation und er beschloss, Naomi die Mandeln herauszuoperieren und sie eine Zeitlang in seiner Klinik zu behalten. Er stellte dann eine horrende Rechnung aus und überreichte nach Auszahlung des Geldes durch das Gericht die gesamte Summe an Charlotte. Als dieser Arzt nach dem Krieg am Nürnberger Prozess angeklagt wurde, setzten sich Naomi und ihre Familie beim Gericht für ihn ein. Der Arzt wurde freigelassen, da zahlreiche Juden sich zu seinen Gunsten ausgesprochen hatten.
Nach diesen Vorfällen kehrte Naomi nach Israel zurück. Die Sehnsucht nach Deutschland war endgültig verschwunden und das junge Mädchen wurde in einen Kibbuz aufgenommen.
Naomi mochte den Kibbuz nicht und noch weniger den Marxismus, der dort gelehrt wurde. Es klaffte nämlich ein riesiger Abgrund zwischen der sehr würdigen und strengen Erziehung, die sie genossen hatte, und der Lebensauffassung und dem mangelnden Respekt gegenüber anderen im Kibbuz. Naomi erkannte sehr wohl, dass die zu diesem Zeitpunkt erteilte Erziehung auf einem Lügengebäude und verdrehten Wahrheiten beruhte. Folgende Tatsache veranschaulicht, wie schlimm die marxistische Propaganda in Palästina wütete, die von den Vätern der jetzigen israelischen Linken verbreitet wurde: eine neue Bibel war herausgegeben worden, aus welcher der Name des Ewigen vollkommen verbannt worden war ! Es gab nur ein geistiges Vorbild, Marx ! Doch in Naomi nagte immer noch die brennende Frage Was ist ein Jude, die sie nie verlassen hatte. Sie stand in beständigem Widerspruch zu ihrer Umwelt, denn es wurde alles unternommen, um eine vollständig judenferne israelische Gesellschaft aufzubauen. Es ging darum, den «neuen Juden – den Homo israelianus» zu schaffen. Naomis Wissensdurst erhielt nie eine befriedigende Antwort. Auf ihre Frage, warum sich die Menschen ausgerechnet in Palästina niederliessen, erwiderte man einfach: «Es ist ein unbevölkertes Land, in dem es Platz gibt, um eine sozialistische Gesellschaft zu errichten» ! 1947 beschloss der Kibbuz Beth Alfa, Naomi auf die Universität zu schicken, damit sie zur Lehrerin für hebräische Sprache und israelische Geografie ausgebildet würde. Sie besuchte natürlich keinen einzigen dieser Kurse und ihre Schwester finanzierte ihr Unterricht der Kabbala und des Judentums mit herausragenden Lehrern. Leider brach 1948 der Unabhängigkeitskrieg aus und Naomi wurde in den Kibbuz zurückgerufen, um in der ersten Verteidigungslinie ihre Aufgabe wahrzunehmen. Nach dem Krieg entfachte sich innerhalb des Kibbuzes eine grosse Diskussion zwischen den jungen, in Israel geborenen Leuten und den Überlebenden der Schoah, die hierher ausgewandert waren und ihre ganzen Familien in Europa verloren hatten. Die jungen Israelis sagten: «Was ihr als Juden in Europa erlitten habt, geht uns nichts an. Wir sind hier geboren, wir sind folglich die direkten Nachfahren der Kanaaniter und wir betrachten uns als Kanaaniter.» Dies stand in krassem Widerspruch zu Naomis Ideen und vor allem mit der echten jüdischen Erziehung, die ihr an der Universität erteilt worden war. In diesem Umfeld und vor allem in offener Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung heiratete Naomi Frenkel und bekam ihre Tochter. In dieser Situation schrieb Naomi Frenkel auch ihr erstes Buch, das später zu einer der meistgelesenen Trilogien in Israel werden sollte.

In welcher Einstellung haben Sie Ihren ersten historischen Roman mit dem Titel «Schaul und Johanna» geschrieben?

Ich wollte beschreiben, was die deutschen Juden erlebt hatten, die so sehr angepasst waren. Mein Wunsch war es zu erzählen, welches Schicksal diese Juden erwartet, die keine Juden sein wollen, wie z.B. die «neuen Kanaaniter». Durch die Geschichte einer Familie habe ich dargelegt, was den Juden in der Diaspora zugestossen ist, als sie genau dieselbe Einstellung an den Tag legten, wie die «Kanaaniter» in Israel, die sich keinesfalls als nichtgläubige Juden sahen, sondern als assimilierte und bewusst vom Judentum entfremdete Juden. Man muss sich im klaren sein, dass der Kampf zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen oder Rechter und Linker, der heute in Israel ausgetragen wird, im Grunde die Fortsetzung und die direkte Folge der ideologischen Debatte verkörpert, die bei der Schaffung des Staates stattfand. Wenn ich meine Bücher zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass es sich um eine Personifizierung von historischen Tatsachen handelt, die durch die Geschichte einer fiktiven Familie gezeigt wird, in erster Linie aber um eine Untersuchung der individuellen Entwicklung in der Tiefe der Seele derjenigen, die diese Tragödien erlebt haben. Die Hauptfigur der Trilogie, der Grossvater, bringt sich schliesslich am Ende der Geschichte um, denn als seine Kinder angesichts der Nazi-Bedrohung aus Deutschland fliehen, kann er sich nicht entschliessen, dieses Land zu verlassen, das er über alles liebt. Ich zeige ebenfalls, dass die Juden nach der Schoah nichts gelernt, nichts verstanden haben. Heute, wenn ich den Muezzin der grossen Moschee von Hebron fast jeden Morgen rufen höre: «Der Tag ist nahe, da unsere Worte sich in Schwerter verwandeln werden», erinnert es mich an die Paraden in den Strassen Berlins vor dem Krieg, als die Leute Drohungen gegen die Juden ausstiessen, die jedoch niemand ernst nahm. Es ist demnach verständlich, dass mich das ganze Osloer Blabla, die Versprechungen in bezug auf einen baldigen Frieden usw. stark beunruhigen. Meiner Ansicht nach konnten wir in diesem Jahrhundert zwei Dinge aus direkter Anschauung lernen. Erstens bedeuten die Permissivität und die Dekadenz, wie sie in Deutschland während den «goldenen Jahren» an der Tagesordnung waren, dass der Diktatur und deren Ausschreitungen Tür und Tor geöffnet sind. Die zweite Lehre speziell jüdischer Art beweist, dass jedesmal, wenn sich die Juden ihrer echten und tiefen Identität entledigen wollen, die uns von der Torah gelehrt wird und von unseren Vorfahren stammt, die schlimmsten Katastrophen sie heimsuchen.

Was halten Sie von den deutsch-jüdischen Beziehungen ?

Ich glaube, dass es eine Schuld zwischen den Völkern gibt. Ich bin allerdings viel in Deutschland umhergereist, natürlich nicht zu meinem Vergnügen, sondern mit einem Auftrag, und ich bin in Israel mit zahlreichen jungen Deutschen zusammengetroffen. Was mich betroffen gemacht hat war die Tatsache, dass sie die Schoah wie ein Phänomen analysieren, das zwar deutsch ist, von dem sie sich aber völlig distanziert haben und von dem sie sich als neutral und absolut nicht betroffen empfinden. Dies ist irgendwie ziemlich beunruhigend.

Heute leben Sie in Hebron, fast ein wenig abseits der grossen Masse der israelischen Gesellschaft. Weshalb ?

Wie ich bereits sagte, lebte ich in ständigem Widerspruch mit der linksausgerichteten Gesellschaft, in der mein Mann und ich verkehrten. Ich fand keine befriedigende Antwort auf meine Frage nach der jüdischen Identität. Als ich eines Tages in Yad Vaschem eine Untersuchung über die Berichte holländischer Juden durchführte, die während des Kriegs von Christen versteckt worden waren und auf diese Weise die Schoah überleben konnten, wurde mir klar, dass alle diese Juden unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Hintergrund etwas gemeinsam hatten: sie waren von religiösen und gläubigen Menschen versteckt worden, und nicht von Politikern oder Geistlichen. Ich habe mir die Frage gestellt, warum dies so war, und an diesem Punkt begann meine Rückkehr zum Judentum, zu unseren Werten und Traditionen. Ich kann Ihnen sagen, dass es in meinen Augen kaum etwas Schwierigeres geben muss als die Rückkehr zum gläubigen Judentum. Allmählich habe ich mit weitergebildet und stand plötzlich vor einem Dilemma, denn ich fühlte mich in der Gesellschaft, in der wir verkehrten, überhaupt nicht mehr wohl, und ertrug auch den Snobismus und die Neureichen von Tel Aviv nicht mehr. Da beschloss ich, nach Hebron zu fahren, wo ich seit dem Sechstagekrieg nicht mehr gewesen war. Nach zwei Tagen fühlte ich, dass ich nach all den Jahren endlich meine wirkliche Heimat gefunden hatte. Ich rief meinen Mann an, um ihm mitzuteilen, dass ich nicht nach Tel Aviv zurückkommen würde, und dass er, wenn er mich wiedersehen wollte, nach Hebron kommen musste. Meine Entscheidung hat ihn ziemlich überrascht, muss ich sagen. Ich hatte endlich die Antwort auf die Frage gefunden, die ich 1932 meinem Vater stellte, Was ist ein Jude ?. Ich hatte bereits meine «Israelität» aufgegeben, um einfach Jüdin zu werden. Ich habe mich der kleinen Minderheit angeschlossen, die zu jedem Zeitpunkt unserer Geschichte die Flamme hat weiterbrennen lassen. Dieser winzige Bruchteil unseres Volkes, deren Mitglieder beschlossen haben, weiterhin wie authentische Juden zu leben, ohne Kompromisse einzugehen, und die über diese unglaubliche und unzerstörbare intellektuelle und spirituelle Energie verfügen. Sie sind bereit, alles durchzustehen und Opfer auf sich zu nehmen. Aus all diesen Gründen möchte ich in Hebron leben… mit meinesgleichen.

Wir haben uns lange mit Naomi Frenkel unterhalten, dieser grossen Dame der zeitgenössischen hebräischen Literatur. Es ist äusserst spannend ihr zuzuhören und mehr als bedauerlich, dass ihre Bücher noch nicht übersetzt worden sind.

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