News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Reportage Frühling 1999 - Pessach 5759

Editorial - Frühling 1999
    • Editorial

Pessach 5759
    • Vermittlung des Judentums

Politik
    • Alle im Zentrum
    • Die Zersplitterung der Knesset

Interview
    • Grundsätze und Realpolitik

Analyse
    • Treibsand

Judäa – Samaria – Gaza
    • Efrat

Kunst und Kultur
    • Hebräische Manuskripte aus dem Mittelalter in der British Library
    • Arthur Szyk
    • Die musikalische Sprache der Torah

Reportage
    • Athen und Jerusalem
    • Griechisches Judentum - Quo Vadis ?
    • Saloniki

Gesellschaft
    • Eine moralische Verpflichtung

Wirtschaft
    • Die Welt der Formen öffnet sich den Blinden

Tsedaka
    •  Bereitschaft - Kompetenz - Hingabe

Ethik und Judentum
    • Die Risiken der Prävention

Artikel per E-mail senden...
Griechisches Judentum - Quo Vadis ?

Von Roland S. Süssmann
QUO VADIS ?
„Die griechischen Juden haben in der sozialen und militärischen Geschichte Griechenlands eine Rolle gespielt und waren im Kampf gegen die Faschisten und die nationalsozialistischen Besetzter aktiv.“ Mit diesen Worten, die schweren Verluste der lokalen jüdischen Gemeinde während der Schoah hervorhebend, beschreibt der griechische Aussenminister Theodoros Pangalos die jüdische Gemeinschaft seines Landes im Vorwort, das er zu einem von seinem Ministerium unter dem Titel „Documents on The History of the Greek Jews“ kürzlich veröffentlichten Dokumentarbuch geschrieben hat.
Die jüdisch-hellenischen Beziehungen reichen sehr weit in die Geschichte der Menschheit zurück und bestanden schon immer aus einer Mischung von ethnischer Konkurrenz und Verschmelzung. Die Kultur und Literatur der griechischsprachigen jüdischen Welt, insbesondere in Ägypten, haben unser religiöses und nationales Erbe in grossem Ausmass bereichert.
Heute zählt die jüdische Gemeinschaft Griechenlands zu den kleinsten in Europa, da sie nur ca. fünftausend Menschen umfasst. In Athen wurden wir sehr herzlich von MOSES C. CONSTANTINIS empfangen, dem Präsidenten des „Central Board of Jewish Communities in Greece“, das u.a. von seinem Vater gegründet wurde, der auch dessen erster Präsident war. Wir haben ihn gebeten, uns „seine“ zwar zahlenmässig kleine, aber durch ihre Geschichte bedeutende Gemeinde zu beschreiben.

Können Sie uns in wenigen Worten sagen, wie die Situation des griechischen Judentums heute aussieht ?

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die jüdische Gemeinschaft Griechenlands stark geschrumpft, da fast 86% ihrer Mitglieder in der Schoah umgekommen waren. Davor hatte es eine Vielzahl jüdischer Gemeinden in zahlreichen Städten überall in Griechenland gegeben ; sie besassen eine solide Struktur und herrliche Synagogen. Nach dem Krieg existierten die meisten dieser Gemeinden aufgrund der Nazi-Verfolgungen und der Auswanderung eines grossen Teils der Überlebenden nach Israel nicht mehr : vor dem Krieg gab es 28 Gemeinden, heute sind es nurmehr acht. Die jüdische Bevölkerung setzt sich hauptsächlich aus Händlern und Intellektuellen zusammen, es gibt einige Geschäftsleute von internationaler Bedeutung, und seit kurzem haben sich einige Juden entschlossen, im öffentlichen Dienst zu arbeiten. So wurde ich vor einigen Jahren zum Sonderberater der griechischen Philatelieverwaltung ernannt, und noch vor nicht allzulanger Zeit war Raphaël Moisis der Verantwortliche der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Griechenlands. Im Moment gibt es keine jüdischen Parlamentarier und nur einen gewählten Stadtrat …, meinen Sohn. Früher gab es jüdische Reeder, doch dies ist heute nicht mehr der Fall. Leider wurden die meisten Synagogen und Gemeindeeinrichtungen, die vor dem Krieg schon bestanden, während der Gefechte oder nach dem Krieg zerstört, da die verbleibenden Gemeinden nicht über die Mittel verfügten, sie zu unterhalten. Der grösste Teil der Friedhöfe ist jedoch erhalten geblieben. Seit einiger Zeit unternimmt unser Vorstand besondere Anstrengungen, um den Unterhalt der alten Synagogen zu fördern. Unsere Organisation dient in erster Linie der Koordination zwischen den Gemeinschaften und vertritt die gesamte jüdische Bevölkerung Griechenlands gegenüber den Behörden. Der Schutz der Rechte der Juden in diesem Land liegt uns natürlich auch sehr am Herzen. Die sozialen Probleme werden im Rahmen spezifischer Programme geregelt, die unter der Leitung der lokalen Gemeinden stehen, und wir unterstützen diese Aktivitäten direkt, wenn sich dies als notwendig erweist.


Wird die jüdische Religion offiziell anerkannt ?

Kraft der griechischen Verfassung von 1827 herrscht Glaubensfreiheit für alle anerkannten Religionen, demnach auch für den jüdischen Glauben. Bis vor kurzem wurde die Religion im Pass angegeben. Heute steht sie nur noch auf der Identitätskarte und wir haben bedeutende Schritte unternommen, damit dieser Eintrag auch von diesem Ausweis verschwindet, da er unserer Ansicht nach diskriminierend ist.


In der Diaspora im allgemeinen und in den europäischen Gemeinschaften im besonderen ist der Anteil der assimilierten Juden und der gemischten Ehen sehr hoch. Wie sieht die Situation in Griechenland aus und wie bekämpfen Sie diese negative Entwicklung ?

Leider gibt es in Griechenland eine sehr hohe Assimilierung sowie recht viele gemischte Ehen. Wir unternehmen auf unserem Niveau alles, was in unserer Macht steht, um die Aktivitäten der jüdischen Jugend zu fördern. In Athen ist es aufgrund der Entfernungen und der über die ganze Stadt verstreut lebenden jüdischen Bevölkerung nicht einfach, die Leute zusammenzubringen, um jüdische Aktivitäten durchzuführen. Dazu kommt natürlich die Tatsache, dass die jüdische Jugend sich wie überall Gedanken über ihre Ausbildung und ihre berufliche Zukunft macht. Wir unterstützen auch Reisen nach Israel, damit unsere jungen Leute Juden aus der ganzen Welt treffen können.

Existiert in Griechenland eine Form des verbalen und aktiven Antisemitismus? Kennen Sie offen antisemitische und rassistische Bewegungen, wie dies bei der Rechtsradikalen in anderen europäischen Ländern der Fall ist ?

Wir sprechen von drei klar voneinander abgegrenzten Faktoren : dem griechischen Staat, der orthodoxen Kirche und der normalen Bevölkerung. Auf staatlicher und offizieller Ebene wurden wir nie mit dem geringsten Antisemitismus konfrontiert. Dies gilt auch für die offizielle Position der Kirche, wobei ich hier hervorheben möchte, dass zahlreiche Geistliche während des Zweiten Weltkriegs Juden gerettet haben. Auch in der gewöhnlichen Bevölkerung kann ich nicht behaupten, dass wir grösseren Problemen mit Antisemitismus begegnet seien. Die weniger gebildeten Leute besitzen selbstverständlich eine Reihe von antisemitischen Vorurteilen, die im allgemeinen in recht folkloristischer und vereinzelter, wenn nicht gar primitiver Weise zum Ausdruck kommen. Dies alles bedeutet natürlich nicht, dass in Griechenland keine antisemitischen Stimmen zu hören sind. Es gibt eine Wochenzeitschrift, die zwar marginal ist und nur in geringer Zahl aufgelegt wird, jedoch offen antisemitisch auftritt. Es existiert auch eine kleine Partei, deren Plattform sich zu Rassismus und Antisemitismus bekennt und bei jeder Wahl 3% der Stimmen erhält, ohne jedoch ein einziges Mal im Parlament vertreten gewesen zu sein.

Was ist das grösste Problem, welches das Leadership der jüdischen Gemeinschaft Griechenlands im Jahr 1999 beschäftigt ?

Die Antwort lautet ohne zu Zögern die gemischten Ehen.

In Ihrer Eigenschaft als jüdischer Leader sehen Sie Ihre Gemeinschaft mit ganz bestimmten Augen. Wie bereiten Sie die Zukunft vor und wie wird diese aussehen?

Zunächst möchte ich es schaffen, die jüdische Identität der Mitglieder unserer Gemeinden zu stärken und zu bewahren. Ich fände es auch wünschenswert, wenn die jüdische Gemeinschaft von der griechischen Gesellschaft im allgemeinen besser akzeptiert würde. Ich möchte ein Programm für ein effizienteres Wartungs- und Renovationssystem der alten jüdischen Stätten einführen, die von einer langjährigen jüdischen Präsenz in diesem Land zeugen ; ich denke insbesondere an die Synagogen, die überall in Griechenland verlassen stehen, und dieses Projekt bedeutet mir sehr viel. Ich habe ebenfalls einen Bauplan für Schoah-Gedenkstätten in den Städten ausgearbeitet, in denen die Gemeinschaften vernichtet wurden, und möchte dabei mit den Stadtverwaltungen direkt zusammenarbeiten. In dieser Hinsicht befinden wir uns gegenwärtig in Verhandlungen mit den Behörden von Korfu, Ioannina und Athen.

Die jüdische Gemeinschaft Griechenland ist, wie wir sehen, zwar klein, doch sie kämpft um ihr Überleben. Beim Abschied sagte M. C. Constantinis zu uns : „Es stimmt, wir sind eine alte jüdische Gemeinde, doch sie fühlt sich jung und kräftig.“

DIE JUGEND
Parallel zu unserer Begegnung mit Moses Constantinis haben wir seine Tochter kennengelernt, ELIANNE CONSTANTINIS, Mathematik Studentin und Präsidentin der jüdischen Studentenvereinigung in Griechenland. Im Verlauf unseres Gesprächs hat sie uns erzählt, dass die Aktivitäten ihrer Gruppe vor allem aus Wochenenden für junge Juden bestehen, die alle drei Monate stattfinden und an denen im Durchschnitt 70 Personen von den 700 überall in Griechenland eingeladenen Jugendlichen teilnehmen. Einmal pro Jahr wird ein „grosses nationales Treffen“ organisiert, dem ca. 110 Personen beiwohnen, und wo im allgemeinen ein Rabbiner oder ein Verantwortlicher der Gemeinde eingeladen wird, das Wort zu ergreifen. Während des Jahres sind die kulturellen Aktivitäten für die jüdische Jugend Sache der verschiedenen Gemeinden. Auf die Frage, ob sie vorhabe sich in Israel niederzulassen, antwortete Elianne : „Es gibt natürlich einige junge Leute, die ihre Alyah machen. Ich persönlich fühle mich, wie die meisten meiner Freunde, wohl in Griechenland und vor allem empfinde ich mich als Griechin. Die meisten von uns essen nicht koscher und diejenigen, die es tun, machen es auf sehr abgeschwächte Art - à la grecque -, d.h. sie essen kein Schweinefleisch im Restaurant, und zu Hause mischen sie Fleisch- und Milchprodukte nicht miteinander …“ Kleine Abordnungen der griechischen Jugend nehmen an internationalen Treffen, sowie ab und zu am „Marsch der Lebenden“ in Auschwitz teil.

DAS RABBINAT
Im Rahmen unserer Diskussion mit Rabbiner JACOB D. ARAR, Rabbiner von Athen und selber Grieche, haben wir festgestellt, dass er seine Aufgabe unter extrem schwierigen Bedingungen erfüllt. Sein Kommentar fiel sehr diplomatisch aus : „Die jüdische Gemeinschaft Griechenlands ist traditionalistisch und nicht sehr fromm. Im allgemeinen kaufen die Juden koscheres Fleisch für zuhause, sie beachten in ihrem Haushalt eine Art Kaschruth.“ Dies bedeutet konkret, dass nur wenige Gläubige koscher essen und die religiösen Gesetze einhalten. Es ist nicht möglich, ein koscheres Restaurant beizubehalten, und das Fleisch wird von einer nicht jüdischen Metzgerei verkauft, was erforderlich macht, dass jedes Stück Fleisch mit dem Stempel des Rabbinats versehen werden muss. Die meisten koscheren Produkte werden aus Israel eingeführt, wie die Matzoth, der Wein, das Putenfleisch usw. Rabbiner Arar geht davon aus, dass es nicht übermässig viele gemischte Ehen gibt und nimmt Konvertierungen vor, wenn sich dies aufdrängt. Auf unsere Frage betreffend die Beziehungen des Rabbinats mit der orthodoxen Kirche und dem griechischen Episkopat, vertraute uns der Rabbiner an : „Wir pflegen höfliche Beziehungen… Offiziell ist alles in bester Ordnung. Vor dem Antritt seines Amtes veröffentlichte der neue Primas von Griechenland regelmässig Artikel, in denen er die jüdische Sache verteidigte, und er blieb dieser Linie bis heute treu. Wir haben jedoch grosse und schwerwiegende Probleme mit Organisationen gehabt, die sich im Umfeld der Kirche befinden, und ich kann nicht abstreiten, dass Antisemitismus tatsächlich vorhanden ist, auch dort, wo es keine Juden gibt.“
Im Zusammenhang mit unserem Gespräch mit Rabbiner J. Arar sind wir dem Rabbiner ISAAC MIZAN, begegnet, der auch als Mohel (Beschneider), Schochet (ritueller Schächter) und Lehrer für religiöse Fächer an der jüdischen Schule von Athen tätig ist. Rabbiner Mizan ist weder zufrieden noch optimistisch. Durch seine praktische Tätigkeit malt er ein eher düsteres Bild von der Situation des griechischen Judentums. Die jüdische Primarschule von Athen (Kinder bis 12 Jahren), die 110 Schüler zählt, unterrichtet nur während drei Stunden pro Woche Grundwissen in jüdischen Fächern zum Thema Feiertage, Schabbat, ein wenig jüdische Geschichte usw. Ein israelischer Lehrer erteilt den Kindern immerhin Hebräischunterricht. Was die Kaschruth betrifft, kaufen 30 Familien in Saloniki und 60-70 in Athen koscheres Fleisch. Die jüdische Gemeinschaft in Griechenland macht sich eine Ehre daraus, dass das koschere Poulet, wie auch das andere Fleisch, wenn es welches gibt, zum selben Preis verkauft wird wie nichtkoscheres Fleisch. Im Hinblick auf Beschneidungen erklärte uns Rabbi Mizan, dass die neugeborenen Kinder von Paaren, in denen die Mutter nicht Jüdin ist, auf Wunsch der Eltern durch den Mohel beschnitten werden können, wenn auch mit einigen Einschränkungen. Da es sich in diesem Fall nicht mehr, gemäss der Halachah, um einen religiösen, sondern um einen rein medizinischen Eingriff handelt, müssen die Eltern des Kindes bei einem Anwalt einerseits eine Genehmigung für den Mohel unterzeichnen die Beschneidung durchführen zu dürfen, damit es mit den griechischen Ärzten nicht zu einem Prozess kommen kann, und andererseits muss sich die Mutter vertraglich verpflichten, ihren Sohn im jüdischen Glauben seines Vaters zu erziehen. Die Mädchen, die in einem gemischten Paar geboren werden und in die jüdische Schule gehen möchten, müssen im Alter von 12 Jahre zum Judentum übertreten. Rabbiner Mizan teilte uns aber betrübt mit : „Die Leute können unterzeichnen, was sie wollen, in der Regel lassen sie sich nach einigen Jahren scheiden, und da die Kinder meist bei ihrer nicht jüdischen Mutter bleiben, sind sie für uns verloren, was düstere Zukunftsaussichten bedeutet.“

Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004